Heideggers seinsgeschichtliche Deutung Deutschlands und des deutschen Volks:
Germania, wo du Priesterin bist
Und wehrlos Rath giebst rings
Den Königen und den Völkern.
(Schlussverse der Hymne Germanien von Friedrich Hölderlin)
Werkstattübungen und Skizzen können oft irreführen, besonders wenn sie von Bearbeitern eines Nachlasses - noch dazu verkürzt - in einen spezifischen Kontext gestellt werden und damit der eigentliche Zusammenhang allzu leicht übersehen wird.
Ein Beispiel hierfür stellt ein kurzer Absatz im Nachwort des Herausgebers des Bandes 97 der Gesamtausgabe (Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948)) dar.
Eine Anmerkung aus dem Jahre 1946 macht deutlich sichtbar, dass sich das Denken Martin Heideggers nicht in politischen Sphären bewegt, sondern dass er sich in seinem seinsgeschichtlichen Denken in einer ganz anderen Dimension aufhält.
Die Anmerkung im Volltext: "Die Weltschande, die dem deutschen Volk droht, die Schande vor der verborgenen Welt des Geschickes, nicht vor der »Welt« als der journalistischen Organisation der Öffentlichkeit des Pöbels, ist keineswegs »die Schuld«, die »man« ihm anrechnet, sondern das Unvermögen, in geschicklicher Haltung unterzugehen und die »Welt« der Moderne zu verachten. Und dennoch: im Verborgenen ist mehr »Haltung« und »Heldentum« als das ganze »demokratische« Geschrei vermuten läßt. -" (Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 97: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2015, S. 146-147)
Der Herausgeber der Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948) jedoch stellt in seinem Nachwort diese Überlegung Heideggers explizit in den politischen Kontext hinein, aus welchem Heidegger sein Denken herausgelöst wissen wollte.
Hier der volle Wortlaut des Absatzes im Nachwort des Herausgebers: "Heidegger hält auch nach der militärischen Niederlage sowie nach der Veröffentlichung des Massenmords der europäischen Juden an der seinsgeschichtlichen Deutung der »Deutschen« fest. Die »Weltschande«11, die dem »deutschen Volk« drohe, »die Schande vor der verborgenen Welt des Geschickes, nicht vor der ›Welt‹ als der journalistischen Organisation der Öffentlichkeit des Pöbels«‚ sei »keineswegs ›die Schuld‹, die ›man‹ ihm« anrechne, »sondern das Unvermögen in geschicklicher Haltung unterzugehen und die ›Welt‹ der Moderne zu verachten«." (Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 97: Anmerkungen I-V (Schwarze Hefte 1942-1948). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2015, S. 523)
Wenn der Herausgeber statt "Heidegger hält auch nach der militärischen Niederlage sowie nach der Veröffentlichung des Massenmords der europäischen Juden an der seinsgeschichtlichen Deutung der »Deutschen« fest." geschrieben hätte: "Heidegger hält trotz der militärischen Niederlage sowie der Veröffentlichung des Massenmords der europäischen Juden weiterhin an der seinsgeschichtlichen Deutung des deutschen Volkes fest", wäre zumindest die Intention der Überlegung weniger verdeckt worden. (Anmerkung: Heidegger schreibt: [... dem deutschen Volk ...], der Herausgeber zitiert zwar richtig, aber folgert daraus [... der »Deutschen« ...], was natürlich die Möglichkeit völlig anderer Schlussfolgerungen eröffnet.)
Da es für die meisten Leser nicht klar sein dürfte, welche Rolle Heidegger in seinem seinsgeschichtlichen Denken dem deutschen Volk zuschreibt, möchte ich 3 Stellen aus seiner im Wintersemester 1934/35 gehaltenen Hölderlinvorlesung zitieren.
Darin gibt er seine umfassende Deutung der Hymnen "Germanien" und "Der Rhein" wieder und entwickelt unter Zuhilfenahme dieser und anderer Hymnen Hölderlins seine eigenes Verständnis von der eigentlichen Aufgabe des deutschen Volkes, welche aber nie vom Volk als Ganzem, sondern immer nur von herausragenden Einzelpersönlichkeiten - aus dem Kreise der Dichter und Denker - geleistet werden kann.
(1) Griechen und Deutsche - Mitgegeben und aufgegeben:
In der ersten Stelle stellt Hölderlin lt. Heidegger den Unterschied zwischen den alten Griechen und den Deutschen heraus, in Bezug darauf, was ihnen vom Schicksal mit- und aufgegeben ist:
"Den Griechen ist mitgegeben: die erregende Nähe zum Feuer des Himmels, das Betroffenwerden durch die Gewalt des Seyns. Aufgegeben ist ihnen die Bändigung des Unbändigen im Erkämpfen des Werkes, das Fassen, Zum-Stand-bringen.
Den Deutschen ist mitgegeben: das Fassenkönnen‚ das Vorrichten und Planen der Bereiche und des Rahmens, das Ordnen bis zum Organisieren. Aufgegeben ist ihnen das Betroffenwerden durch das Seyn.
Das jeweils für ein Volk Schwerste - das ›Nationelle in seinem freien Gebrauch‹ - wird aber nur errungen, indem gekämpft wird um das jeweils Aufgegebene‚ d. h. um die Erwirkung der Bedingungen der Möglichkeit des freien Gebrauchs. In diesem Kampf und nur in ihm erreicht ein geschichtliches Volk sein Höchstes. Weil den Griechen der freie Gebrauch der Leidenschaft zum Überwältigenden aufgegeben war, deshalb fiel ihnen aus diesem Kampf ihr Höchstes zu, die Fügung des Seyns in der Fuge des Werkes ([...]). Umgekehrt wird uns unser Höchstes werden, wenn wir die Mitgift des Fassenkönnens so ins Werk setzen, daß dieses Fassen sich bindet und bestimmt und sich fügt der Fuge des Seyns, wenn das Fassenkönnen nicht zum Selbstzweck sich verkehrt und nur im eigenen Vermögen sich verläuft. Nur das zu Erkämpfende und Erkämpfte, nicht das nur Eigene, ist die Gewähr und Gewährung des Höchsten. Weil den Griechen und den Deutschen das Mitgegebene und das Aufgegebene je verschieden zugeteilt sind, deshalb werden die Deutschen gerade in ihrem Eigenen das Höchste der Griechen nie übertreffen. Das ist das ›Paradoxe‹. Indem wir den Kampf der Griechen, aber in der umgekehrten Front, kämpfen, werden wir nicht Griechen, sondern Deutsche." (Martin Heidegger: Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944, Band 39: Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1980, S. 292-293)
(2) Das Wesen des Untergangs:
In der zweiten aus der Vorlesung zitierten Stelle besinnt sich Heidegger in seiner Auslegung entsprechender Schriften Hölderlins auf das Wesen des Untergangs:
"Bei der Besinnung auf den Untergang ist entscheidend nicht das Untergehen, sondern das Heraufkommen der neuen Einheit, von der aus das bisher Bestehende als sich auflösend begriffen wird. Der Untergang ist deshalb ein geschichtlich ausgezeichneter Augenblick, der sich auf ein Jahrhundert ausdehnen kann, weil da das Unerschöpfte, Unerschöpfliche des neuen Anfangs, das Mögliche, sich zur Macht bringen kann, gesetzt, daß diejenigen da sind, die dieses unerschöpfliche Mögliche als ein solches im voraus zu erfahren, zu stiften und zu wissen und zu erwirken vermögen." (Martin Heidegger: Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944, Band 39: Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1980, S. 122)
(3) Das deutsche geschichtliche Dasein - das Volk der Dichter und Denker ("wehrlos Rat gibt"):
Die dritte Stelle stellt das Herzstück des seinsgeschichtlichen Denkens Heideggers in Bezug auf das Wesen und die Aufgabe des deutschen Volkes dar:
"Dann ist dieses Land, sein Volk, d. h. das deutsche geschichtliche Dasein, solcher Art, daß es »wehrlos Rath« gibt »rings / Den Königen und den Völkern« ([...]). Diese Wehrlosigkeit meint nicht, wie früher ([...]) schon angedeutet, das Ablegen der Waffen, die Schwäche und das Ausweichen vor dem Kampfe. Dieses »wehrlos« meint jene geschichtliche Größe, die der Abwehr und Gegenwehr nicht mehr bedarf, die siegt durch das Da-sein, indem dieses durch das gewirkte In-sich-stehen zur Erscheinung bringt das Seiende‚ wie es ist. Kein lehrhaftes und schulmeisterlich redendes Raten und Vorschreiben - sondern jenes mächtigste und unmittelbarste Zeigen der Wege, das sich dadurch erwirkt, daß die Wege gegangen werden, das Dasein sich gründet.
Der Dichter meint nicht jenes Deutschland jener Dichter und Denker, wie sich die übrige Welt diese vorstellt und wünscht: die bloßen Träumer und Ahnungslosen, die dann im Entscheidenden leicht zu überreden sind und zum Narren für die Übrigen werden sollten; vielmehr jenes Dichten und Denken, das in die Abgründe des Seyns einbricht, sich nicht in den flachen Gewässern einer allgemeinen Weltvernunft begnügt, jenes Dichten und Denken, das im Werk das Seiende neu und anfänglich zur Erscheinung und zum Stehen bringt." (Martin Heidegger: Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944, Band 39: Hölderlins Hymnen »Germanien« und »Der Rhein«. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1980, S. 289-290)