Sein und Zeit

Offener Brief an Peter Trawny,
dem Herausgeber von Heideggers "Überlegungen II-XV (Schwarze Hefte 1931-1941)"
und Autor des Buches "Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung"

Der Brief wurde am 21.6.2014 per E-Mail an Herrn Peter Trawny geschickt.
Aus urheberrechtlichen Gründen wird er auf dieser Homepage nicht vollständig wiedergegeben.





Sehr geehrter Herr Trawny!

 

Mit viel Interesse, aber auch mit großem Staunen habe ich Ihr Buch „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ gelesen. Auch das, was Sie in den beiden Nachworten als Herausgeber der Bände 95 und 96 von Martin Heideggers Gesamtausgabe („Überlegungen VII-XI“ und „Überlegungen XII-XV“) zum Thema Heidegger und das Judentum geschrieben haben, hat in mir Befremden und Verwunderung ausgelöst.

Nun wurde und wird Heidegger seit langem unterstellt, er sei eigentlich bis zuletzt Nationalsozialist gewesen und sein Denken sei eine Nationalsozialistische Philosophie. Was er selber dazu sagte und schrieb, glaubt man ihm nicht. Nach Veröffentlichung der „Überlegungen“ wird diese Unterstellung wohl kaum noch aufrechtzuerhalten sein. Sie wird aber weiterbestehen – zumindest auf der unbewussten Ebene – wie es auch Ihre Nebeneinander-setzung von „Äußerungen über das Judentum“ und „Auslegung des nationalsozialistischen Alltags“ im von Ihnen verfassten Nachwort des Herausgebers der Schwarzen Hefte 1938/39 zeigt. – Ich zitiere Sie: „Den Hintergrund dieser Äußerungen über das »Judentum« sowie der Auslegung des nationalsozialistischen Alltags bilden freilich all jene Gedanken, die wir aus Heideggers zur selben Zeit entstehenden seinsgeschichtlichen Abhandlungen kennen […]“ (Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 95: ÜberlegungenVII-XI (Schwarze Hefte 1938/39). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 452.) – Als ob Heideggers Aussagen über den Nationalsozialismus lediglich eine Kritik an dessen alltäglichen Äußerungen gewesen wären und nicht seine fundamentale Gegnerschaft zu diesem selbst, d. h. zu dessen Wesen, bezeugten.

Wenn der Herausgeber von Heideggers „Überlegungen“ in dessen Über-legungen zum Judentum vermeintliches oder wirkliches antisemitisches Gedankengut „ent-deckt“, und aus dem Zusammenhang der jeweiligen Überlegung heraus-gerissene Sätze und Satzfetzen einer breiten Öffentlichkeit, die in der Regel keines der Heidegger’schen Werke gelesen hat, als „antisemitisch“ präsentiert, und sogar einen eigenen Terminus dafür erfindet – seinsgeschichtlicher Antisemitismus –, dann gewinnt der Streit um Heidegger als Philosoph und als Mensch eine neue Dimension.

Deshalb möchte ich im Rahmen meiner persönlichen Aus-einander-setzung mit dem Werk Heideggers zu den von Ihnen geäußerten Thesen Stellung beziehen und diesen meine Über-legungen gegenüber-stellen.

Die Frage, die dabei zur Ent-scheidung steht, ist, ob Ihre Dar-stellung eine dem Denken Heideggers gerechte Aus-legung ist oder eine Unter-stellung – bzw. ob meine Über-legungen in sein Denken etwas hinein-legen, was gar nicht drinnen ist, oder ob sie ihm gerecht werden. Anders gesagt: es geht mir darum, ob Ihre Dar-stellung im Sinne einer Destruktion oder einer Dekonstruktion zu verstehen ist. Im ersteren Falle wäre Heidegger tatsächlich ein Antisemit gewesen, im letzteren Falle wäre der von Ihnen sogenannte seinsgeschichtliche Antisemitismus etwas, das Sie in Ihrer Auseinandersetzung mit Heideggers Werk er-funden haben, so wie Heidegger sein seinsgeschichtliches Denken in der Auseinandersetzung mit den Werken der großen Philosophen und Hölderlin er-funden hat. Natürlich kann es auch der Fall sein, dass sowohl das, was Sie über Heideggers Aussagen zum Judentum schreiben als auch das, was ich darüber meine, weit entfernt von seinem Denken sind. Es kann sein, dass wir beide sein Denken jeweils mit Gedankengut kontaminieren, das ihm selbst fremd ist.

 

Über-legungen – Unter-stellungen:

Heideggers „Überlegungen“ sind Über-legungen. Das heißt, sie beanspruchen nicht, etwas Endgültiges zu sein. Über-legungen – im Gegensatz zu Aus-legungen – stülpen dem jeweiligen Gegen-stand etwas über. Sie sind gut sichtbar. Ich kann zu einem jeweiligen Gegen-stand einander widersprechende und einander sogar ausschließende Überlegungen an-stellen. Über-legungen haben die Eigenschaft, dass sie nach neuen Über-legungen verlangen, auch solchen, die ihnen widersprechen. Über-legungen wollen verworfen sein. Sie fordern heraus, sich mit dem jeweiligen Gegen-stand und den unter-schiedlichen Über-legungen zu ihm auseinanderzusetzen.

Unter-stellungen hingegen verstecken sich unter dem Gegen-stand, sie wollen unsichtbar bleiben. Sie verzerren und verdrehen den Gegen-stand. Sie ver-fälschen ihn. Leider tarnen sie sich gerne als Fest-stellungen. Das macht alles so kompliziert und schwer.

Sie wollen beweisen, dass Heideggers – leider spärliche – Überlegungen zu den Juden und dem Judentum in Wahrheit Unterstellungen sind. Ich will in dieser Auseinandersetzung aufzeigen, dass Ihre Auslegung der Überlegungen Heideggers Unterstellungen sind.

Da wir beide – Sie und ich – Heideggers Denken lieben, ist zu hoffen, dass Sie mit Ihrer Aus-legung falsch liegen und dass meine Über-legungen keine schönfärberischen Unter-stellungen sind. Dennoch gehören sie dem Wesensbereich des Ge-stells an.

 

Ent-gegen-stellungen:

Tun wir so, als ob wir Heideggers Überlegungen nicht kennen würden, ja sie zum ersten Mal lesen würden. Fangen wir mit 2 Überlegungen an, indem wir diese einander (jeweils in gekürzter Form) gegenüberstellen:

Erste Überlegung:

„Am Beginn des dritten Jahres des planetarischen Krieges. – Der gewöhnliche Verstand möchte gern die Geschichte verrechnen und verlangt nach einer »Bilanz«. Überdies sind auch Menschen, denen durch noch so eindringliche Leistungen nicht zu helfen sein wird. Sofern man also nur historisch und nicht geschichtlich denkt und auch noch den Planetarismus in die Wandlung der Geschichte einbezieht, statt ihn nur und höchstens geographisch als Rahmen der »historischen« Begebenheiten zu verwenden, sofern man nur »Tatsachen«, die immer nur halb wahr sind und deshalb irrig, gelten läßt, möchten sich folgende Feststellungen treffen lassen:
1. Wir siegen jetzt zwei Jahre hindurch.
2. Die Zahl der zu Versorgenden wächst, da auch die eroberten Gebiete in die Blockade fallen.
3. Die Gebiete der Verwaltung dehnen sich mehr und mehr aus.
4. Die Möglichkeiten des politischen Handelns sind alle erschöpft, da kein Partner mehr da ist.
5. Der Mehrfrontenkrieg, der durch eine geniale Politik für beseitigt galt als Hauptgefahr, ist Tatsache durch eigenen Entschluß.
6. Die Gelegenheit einer wesentlichen Entscheidung innerhalb der einzig noch bleibenden kriegerischen Auseinandersetzung ist verschwunden.
7. In allen Bezirken des Vorgehens und Planens ist ein einziges und bloßes »Und-so-weiter« das allein sichtbare Ziel.
8. Die Angleichung der kriegerischen Gegner in der Art ihres Handelns vollendet sich.
9. […]
10. Die geeignete Verschleierung dieser europäisch-deutschen Zustände und den Übergang der Einkreisung zur Einkesselung Europas nennt man »Neuordnung«.
Dagegen muß bedacht werden: Nun ist es aber ein Vorzug der diesmaligen Kriegführung im Unterschied zum ersten Weltkrieg, daß sie aus diesem lernen kann und auch gelernt hat. Um den vorgenannten zehn Punkten, die in irgendeiner Abwandlung doch leicht einmal den klaren Blick auf die Geschichte trüben und von der Besinnung abhalten können, rechtzeitig zu begegnen, müßte unsere überall gut eingespielte Propaganda sich ihrer annehmen.“
(Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 96: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 261-262.)

Meine Über-legung dazu:

Heidegger betont ausdrücklich, dass diese Überlegung keine (seins)geschichtliche Auslegung des 2. Weltkrieges ist, sondern dass er historisch rechnet, wenn er hier nach 2 Jahren Krieg aus deutscher Sicht Bilanz zieht. Es ist eine erschreckende Bilanz dieses sinnlosen Krieges. Bei aller Machtentfaltung des nationalsozialistischen Deutschlands sind sämtliche Ziele verloren gegangen, es gibt nur noch ein bloßes »Und-so-weiter«, zu einer wesentlichen Entscheidung innerhalb der kriegerischen Auseinandersetzung kann es nicht mehr kommen, alle Möglichkeiten des politischen Handelns sind erschöpft. Und was tut die Nazi-Propaganda? Sie verschleiert diese Zustände und nennt sie schönfärberisch „Neuordnung“. – Diese Überlegung ist an die Nazis und deren Propaganda gerichtet. Heidegger hätte sie wohl gerne in brieflicher Form an die Nazis geschickt – er hat sie aber mit gutem Grunde für sich be- und geheim gehalten.

Zweite Überlegung:

„Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfaßbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern.
(Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 96: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 262.)

Ihre Aus-legung:

„Der Vorteil des „Weltjudentums“ im von der „Machenschaft“ veranlassten Kampf gegen „uns“ besteht darin, „überall unfaßbar“ von irgendwoher die Geschicke leiten zu können. […] Heidegger war in Fragen des Krieges und des Opfers der deutschen Soldaten stets parteiisch – und er konnte es dabei nicht unterlassen, seiner Parteilichkeit eine seinsgeschichtliche Note zu verleihen.“
(Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. 1. Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 49-50.)

Nun gehören, wie Sie wissen, diese beiden Überlegungen nicht nur zusammen, sie bilden in ihrer Gesamtheit eine einzige Überlegung.
Ich stelle sie jetzt unverkürzt dar:

„Am Beginn des dritten Jahres des planetarischen Krieges. – Der gewöhnliche Verstand möchte gern die Geschichte verrechnen und verlangt nach einer »Bilanz«. Überdies sind auch Menschen, denen durch noch so eindringliche Leistungen nicht zu helfen sein wird. Sofern man also nur historisch und nicht geschichtlich denkt und auch noch den Planetarismus in die Wandlung der Geschichte einbezieht, statt ihn nur und höchstens geographisch als Rahmen der »historischen« Begebenheiten zu verwenden, sofern man nur »Tatsachen«, die immer nur halb wahr sind und deshalb irrig, gelten läßt, möchten sich folgende Feststellungen treffen lassen:
1. Wir siegen jetzt zwei Jahre hindurch.
2. Die Zahl der zu Versorgenden wächst, da auch die eroberten Gebiete in die Blockade fallen.
3. Die Gebiete der Verwaltung dehnen sich mehr und mehr aus.
4. Die Möglichkeiten des politischen Handelns sind alle erschöpft, da kein Partner mehr da ist.
5. Der Mehrfrontenkrieg, der durch eine geniale Politik für beseitigt galt als Hauptgefahr, ist Tatsache durch eigenen Entschluß.
6. Die Gelegenheit einer wesentlichen Entscheidung innerhalb der einzig noch bleibende kriegerischen Auseinandersetzung ist verschwunden.
7. In allen Bezirken des Vorgehens und Planens ist ein einziges und bloßes »Und-so-weiter« das allein sichtbare Ziel.
8. Die Angleichung der kriegerischen Gegner in der Art ihres Handelns vollendet sich.
9. Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfaßbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern.
10. Die geeignete Verschleierung dieser europäisch-deutschen Zustände und den Übergang der Einkreisung zur Einkesselung Europas nennt man »Neuordnung«.
Dagegen muß bedacht werden: Nun ist es aber ein Vorzug der diesmaligen Kriegführung im Unterschied zum ersten Weltkrieg, daß sie aus diesem lernen kann und auch gelernt hat. Um den vorgenannten zehn Punkten, die in irgendeiner Abwandlung doch leicht einmal den klaren Blick auf die Geschichte trüben und von der Besinnung abhalten können, rechtzeitig zu begegnen, müßte unsere überall gut eingespielte Propaganda sich ihrer annehmen.“
(Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 96: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 261-262.)

Nach Ihrer Interpretation spricht Heidegger im Punkt 9 von „der Machtentfaltung des Judentums“. Ich lese hingegen „bei aller Machtentfaltung des nationalsozialistischen Deutschlands“. Er beschreibt ja in den Punkten davor diese Machtentfaltung. Den Punkt 9 lese ich in Zusammenschau mit der ganzen Überlegung so: Ihr Nazis! Was macht Ihr mit unserer deutschen Jugend! Ihr wähnt Euch in einem Kampf mit dem Weltjudentum – ja, Ihr seid gewissermaßen in einem Kampf mit dem Weltjudentum! Ihr habt es durch Euer Handeln zwar aufgestachelt, aber Ihr fasst es nicht; Ihr könnt es in diesem Kampf gar nicht fassen. Alles, was Ihr da hinausposaunt, ist reine Propaganda! In Wirklichkeit dient es nur dazu, die Tatsache zu verschleiern, dass Ihr trotz aller Machtentfaltung, die Euch unbestritten gelungen ist, nichts anderes erreicht habt, als die deutsche Jugend zu verheizen und in den Tod zu schicken. (Anmerkung: Der von mir hier verwendete Ausdruck >Kampf< ist mein Versuch der Ausdeutung des Begriffszusammenhangs von >aufgestachelt< & >überall unfassbar<. Ich denke ihn als Paraphrase für den Bedeutungszusammenhang des Begriffs >Krieg der Worte< in Gegensetzung zu >kriegerische Handlungen<.)

 

Rasseprinzip und Entrassung:

Wenden wir für die Überlegung Nr. 38 des Schwarzen Heftes Nr. XII dieselbe Methode an: In der 1. Version lassen wir nur einen Satz aus und zwar jenen, in dem „die Juden“ erwähnt sind. Die 2. Version gibt Ihr Zitat aus der 38. Überlegung wieder. Die ungekürzte Originalfassung dieser Überlegung Heideggers wird als 3. Version dargeboten.

Version 1:

„Daß im Zeitalter der Machenschaft die Rasse zum ausgesprochenen und eigens eingerichteten »Prinzip« der Geschichte (oder nur der Historie) erhoben wird, ist nicht die willkürliche Erfindung von »Doktrinären«, sondern eine Folge der Macht der Machenschaft, die das Seiende nach allen seinen Bereichen in die planhafte Berechnung niederzwingen muß. […] Die Einrichtung der rassischen Aufzucht entstammt nicht dem »Leben« selbst, sondern der Übermächtigung des Lebens durch die Machenschaft. Was diese mit solcher Planung betreibt, ist eine vollständige Entrassung der Völker durch die Einspannung derselben in die gleichgebaute und gleichschnittige Einrichtung alles Seienden. Mit der Entrassung geht eine Selbstentfremdung der Völker in eins – der Verlust der Geschichte – d. h. der Entscheidungsbezirke zum Seyn. Und damit verschütten sich die einzigen Möglichkeiten, daß Völker ureigener Geschichtskraft in ihrer Gegenwendigkeit sich zur Einheit bringen: z. B. der wissende Begriff und die Leidenschaft der Besinnung mit der Innigkeit und Weite des Unheimlichen – Deutschtum und Russentum – was mit »Bolschewismus« nichts zu tun hat, der nichts »Asiatisches« ist, sondern nur die Ausformung westlich-neuzeitlichen Denkens auf der Stufe des ausgehenden 19. Jahrhunderts – die erste entschiedene Vorwegnahme der uneingeschränkten Macht der Machenschaft.
Gleich wahnwitzig – d. h. Verkehrung innerster Wesensverhältnisse – ist es, den Bolschewismus durch das Rasseprinzip bekämpfen zu wollen (als ob nicht beide in grundverschiedener Gestalt doch dieselbe metaphysische Wurzel hätten) und das Russentum durch den Faschismus zu retten trachten, (als ob nicht Beides, durch einen Abgrund verschieden, jede Wesenseinheit ausschlösse). Daß aber dergleichen historisch-technisch betrieben wird, zeigt bereits den endgültigen Sieg der Machenschaft über die Geschichte, die Niederlage aller Politik gegenüber der Metaphysik, worin sich zugleich ankündigt, wie sehr wir nur noch in einem historischen Vordergrund eingetrieben werden und mehr und mehr die Wege verkennen, auf denen der Geschichtsgrund dessen zu wissen ist, was geschieht.“
(Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 96: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 56-57.)

Meine Aus-legung:

In dieser Überlegung geht es um zweierlei: Erstens um den Wahnwitz der Nazis, dass sie das Rasseprinzip zum ausgesprochenen und eigens eingerichteten »Prinzip« erhoben haben. Und zweitens, dass sie den Bolschewismus durch das Rasseprinzip bekämpfen wollen. Heidegger selbst lehnt das Rasseprinzip als geistiges Prinzip ab. Aber ihm bleibt nichts übrig, es als etwas gegebenes anzuerkennen, einerseits weil das Rasseprinzip laut wissenschaftlicher Lehrmeinung ein Prinzip der Biologie ist, und andererseits weil es in einer „biologisch-geistigen Vermischung“ nicht nur als Theorie ein expliziter und zentraler Bestandteil der Weltanschauung des Nationalsozialismus ist, sondern von den Nazis mit planender Berechnung im praktischen Handeln ohne jegliche Einschränkungen betrieben wird. Das Rasseprinzip ist eine Tat-sache, die nicht verleugnet werden kann. Aber was geschieht, wenn es von einer selbsternannten „Herren“-rasse entfesselt und schrankenlos angewendet wird, wenn diese die andere Rassen auszurotten versucht? Anstatt dass sich die Völker gegenseitig befruchten und voneinander lernen! (Anmerkung: Die eigentliche Aneignung des Eigenen geschieht, indem wir vom Fremden lernen. Durch den Durchgang durch das Fremde ist es uns zum einen möglich uns dieses anzueignen. Zum anderen können wir nur dadurch, dass wir das Andere kennengelernt haben, unser eigenes Wesen eigentlich kennenlernen und es uns so erst aneignen – wie Heidegger in seiner Hölderlinauslegung „Andenken“ doziert.) – Ja, was geschieht, wenn alle Rassen außer einer ausgelöscht sind, wenn einzig die selbsternannte „Herren“-rasse überlebt hat? Was ist damit zugleich geschehen? Es ist eine vollständige Entrassung eingetreten. Es gibt keine rassischen Unterschiede mehr, alle sind gleich. Damit ist der Begriff Rasse inhaltslos geworden bzw. nur noch auf vergangene Zeiten anwendbar.
Heidegger schreibt dem Deutschtum folgende Eigenschaften zu: der wissende Begriff und die Leidenschaft der Besinnung; mit heutiger Terminologie würden wir sagen: der wissende Begriff und die Leidenschaft der Besinnung gehören maßgeblich zur deutschen Kultur. Dem Russentum schreibt er die Innigkeit und Weite des Unheimlichen zu. Die Deutschen könnten auf die Russen zugehen und von ihnen und die Russen könnten von den Deutschen lernen. Stattdessen versuchen die Nazis mit rassistischen Mitteln den Bolschewismus auszurotten. Nach Heidegger ist der Bolschewismus die erste entschiedene Vorwegnahme der uneingeschränkten Macht der Machenschaft. Wo es einen Ersten gibt, muss es auch zumindest einen Zweiten geben. Der Zweite muss nach dem Ersten aufgetreten sein. Wen meint Heidegger wohl mit dem Zweiten, der Macht uneingeschränkt ausübt?

Version 2:

„Die Juden »leben« bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur Wehr setzen. Die Einrichtung der rassischen Aufzucht entstammt nicht dem »Leben« selbst, sondern der Übermächtigung des Lebens durch die Machenschaft. Was diese mit solcher Planung betreibt, ist eine vollständige Entrassung der Völker durch die Einspannung derselben in die gleichgebaute und gleichschnittige Einrichtung alles Seienden. Mit der Entrassung geht eine Selbstentfremdung der Völker in eins – der Verlust der Geschichte – d. h. der Entscheidungsbezirke zum Seyn.“
(Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 96: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 56.)

Ihre Aus-legung:

„Der Philosoph erklärt auf der einen Seite das „Rassedenken“ zur „Folge der Machenschaft“. […] Die „uneingeschränkte Anwendung“ des „Rasseprinzips“ wäre dann eine bloße Schutzmaßnahme in einem Konflikt.“
(Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. 1. Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 40-42.)

Jetzt die vollständige 38. Überlegung:

„Daß im Zeitalter der Machenschaft die Rasse zum ausgesprochenen und eigens eingerichteten »Prinzip« der Geschichte (oder nur der Historie) erhoben wird, ist nicht die willkürliche Erfindung von »Doktrinären«, sondern eine Folge der Macht der Machenschaft, die das Seiende nach allen seinen Bereichen in die planhafte Berechnung niederzwingen muß. Durch den Rassegedanken wird »das Leben« in die Form der Züchtbarkeit gebracht, die eine Art der Berechnung darstellt. Die Juden »leben« bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur Wehr setzen. Die Einrichtung der rassischen Aufzucht entstammt nicht dem »Leben« selbst, sondern der Übermächtigung des Lebens durch die Machenschaft. Was diese mit solcher Planung betreibt, ist eine vollständige Entrassung der Völker durch die Einspannung derselben in die gleichgebaute und gleichschnittige Einrichtung alles Seienden. Mit der Entrassung geht eine Selbstentfremdung der Völker in eins – der Verlust der Geschichte – d. h. der Entscheidungsbezirke zum Seyn. Und damit verschütten sich die einzigen Möglichkeiten, daß Völker ureigener Geschichtskraft in ihrer Gegenwendigkeit sich zur Einheit bringen: z. B. der wissende Begriff und die Leidenschaft der Besinnung mit der Innigkeit und Weite des Unheimlichen – Deutschtum und Russentum – was mit »Bolschewismus« nichts zu tun hat, der nichts »Asiatisches« ist, sondern nur die Ausformung westlich-neuzeitlichen Denkens auf der Stufe des ausgehenden 19. Jahrhunderts – die erste entschiedene Vorwegnahme der uneingeschränkten Macht der Machenschaft.
Gleich wahnwitzig – d. h. Verkehrung innerster Wesensverhältnisse – ist es, den Bolschewismus durch das Rasseprinzip bekämpfen zu wollen (als ob nicht beide in grundverschiedener Gestalt doch dieselbe metaphysische Wurzel hätten) und das Russentum durch den Faschismus zu retten trachten, (als ob nicht Beides, durch einen Abgrund verschieden, jede Wesenseinheit ausschlösse). Daß aber dergleichen historisch-technisch betrieben wird, zeigt bereits den endgültigen Sieg der Machenschaft über die Geschichte, die Niederlage aller Politik gegenüber der Metaphysik, worin sich zugleich ankündigt, wie sehr wir nur noch in einem historischen Vordergrund eingetrieben werden und mehr und mehr die Wege verkennen, auf denen der Geschichtsgrund dessen zu wissen ist, was geschieht.“
(Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 96: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 56-57.)

 

Rasseprinzip und Rassismus:

Der Begriff „rassisch“ meint nicht geistige Verwandtschaft, Abstammung im Denken oder Handeln, sondern Abstammung vom Blute her, also biologische (heute würden wir sagen: genetische) Abstammung. Ein Weißer kann biologisch (genetisch) kein Schwarzer werden und umgekehrt. Der Rassebegriff ist ein biologischer Begriff. Wer nach dem Rasseprinzip lebt, wird der Überzeugung sein, dass sein leiblicher Sohn bzw. seine leibliche Tochter weiterhin seiner Rasse angehört, auch dann, wenn dieser bzw. diese sich schon lange nicht mehr dazu bekennen. Laut Halacha, den jüdischen Religionsvorschriften, gilt eine Person nicht nur dann als jüdisch, wenn sie jüdischen Glaubens ist, sondern auch dann, wenn sie eine jüdische Mutter hat, unabhängig davon, ob, oder wie sehr sie die jüdischen Glaubensvorschriften befolgt oder nicht. Ersteres meint „jüdisch“ im Sinne der Religionszugehörigkeit, letzteres meint Jude nach dem rassischen Prinzip. Es gibt viele Völker, die nach dem Rasseprinzip lebten oder noch immer leben. Ein Beispiel sind die Roma. Und dieses Rasseprinzip wird implizit anerkannt, wenn die sog. politische Korrektheit (political correctness) einfordert, dass Roma nicht diskriminiert werden dürfen. Das Rasseprinzip an sich ist weder gut noch schlecht. Moralisch verwerflich ist Rassismus, das heißt rassistisches Denken und Verhalten.

Lassen Sie mich im Folgenden zuerst Ihre Auslegung einer Heideggerstelle zum Begriff Rasse wiedergeben, und erst danach diese Stelle im Originalwortlaut zitieren, um zuletzt meine Überlegungen dazu darzulegen:

„In seiner Vorlesung vom Sommer 1934 über „Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache“ kommt er auf die „Rasse“ zu sprechen. […] So lautet auch die schon erwähnte Formulierung in den „Überlegungen III“: „Eine Bedingung“ werde „zum Unbedingten aufgesteigert“.
(Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. 1. Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 58-60.)

Heidegger doziert an dieser Stelle der Vorlesung über die Vieldeutigkeit des Begriffes Volk. Dabei kommt er gezwungenermaßen auch – leider nur sehr kurz – auf den Begriff Rasse zu sprechen:

„Oft gebrauchen wir das Wort »Volk« auch im Sinne von »Rasse« (z. B. auch in der Wendung »völkische Bewegung«). Was wir »Rasse« nennen, hat einen Bezug auf den leiblichen, blutmäßigen Zusammenhang der Volksglieder, ihrer Geschlechter. Das Wort und der Begriff »Rasse« ist nicht weniger vieldeutig als »Volk«. Das ist kein Zufall, da beide zusammenhängen.
»Rasse« meint nicht nur Rassisches als das Blutmäßige im Sinne der Vererbung, des Erbblutzusammenhanges und des Lebensdranges, sondern meint zugleich auch oft das Rassige. Dies ist aber nicht beschränkt auf leibliche Beschaffenheit, sondern wir sagen z. B. auch »rassiges Auto« (wenigstens die Jungen). Das Rassige verwirklicht einen bestimmten Rang, gibt bestimmte Gesetze, betrifft nicht in erster Linie die Leiblichkeit der Familie und der Geschlechter. Rassisch im ersteren Sinne braucht noch lange nicht rassig zu sein, es kann vielmehr sehr unrassig sein.“
(Martin Heidegger: Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1919-1944, Band 38: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1998, S. 65.)

Meiner Meinung nach unterscheidet hier Heidegger aus gutem Grund zwischen „rassisch“ und „rassig“. Beides geht auf den Begriff „Rasse“ zurück. Mit „rassisch“ ist der Erbblutzusammenhang im Sinne der Vererbung der Gene gemeint – „rassisch“ ist also ein Terminus der Biologie. „Rassig“ hingegen ist ein geistiger Terminus: Verwirklichung eines bestimmten Ranges, bestimmte Gesetzgebung. Heidegger hat – meiner Meinung nach – diese von ihm getroffene Unterscheidung nur an-gedacht und nicht durch-dacht und damit deren essentielle Bedeutung für das Problem des Rassismus nicht klar gesehen. Für ihn bleibt „rassisch“ der Überbegriff. „Rassig“ hat in unserem alltäglichen Sprachgebrauch eine positive Konnotation. Wenn wir im Begriff „rassig“ dessen Gegenteil, nämlich „un-rassig“ mitdenken, und die Begriffe „rassisch“ und „rassig“ auf der gleichen Ebene ansetzen (rassig ≠ rassisch), wird sofort klar, was das Problem des Rassismus ist. Der Rassismus vermischt die jeweiligen Begriffsinhalte von „rassisch“ und „rassig/un-rassig“ miteinander und holt aus dieser Vermischung seine Rechtfertigung. Heidegger ahnt offensichtlich an dieser Stelle diesen Sachverhalt und will deshalb auch, dass „rassisch“ und „rassig“ auseinander gehalten und nicht miteinander vermischt werden.

 

Entrassung:

Der Begriff Entrassung kommt in Heideggers Überlegungen VII-XI nie vor, in den Überlegungen XII-XV kommt er 2-mal vor und zwar in der oben vollständig zitieren Überlegung Nr. 38 (Überlegungen XII). In Ihrem Buch „Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung“ ist das Wort Entrassung 11-mal zu lesen, 2-mal in der von Ihnen stark verkürzt zitieren Überlegung Nr. 38 und an 6 weiteren Stellen 9-mal; d. h. Sie nehmen 6-mal auf diese 1 Stelle Bezug. (Verzeihen Sie mein Rechnen und Auf-rechnen – aber wir befinden uns in unserer Auseinandersetzung ja im Wesensbereich des Ge-Stells!) Ich möchte auf 2 Stellen von Ihnen ant-worten:

„Was die „Machenschaft“ aber mit dieser verborgenen Konkurrenz betreibe, ist insgeheim – so Heidegger – eine „vollständige Entrassung der Völker“. […] Freilich ist damit noch nicht erklärt, wie zwei Feinde, die jeweils dem „Rasseprinzip“ folgen, zu einer „vollständigen Entrassung“ beitragen können.“
(Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. 1. Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 44.)
„Das „Weltjudentum“ muss ihm als ein Volk oder als die Gruppe eines Volkes erschienen sein, das/die in höchster Selbstkonzentration kein anderes Ziel verfolgte als die Zersetzung aller anderen Völker: eine „Rasse“, die bewusst die „Entrassung der Völker“ betrieb.“
(Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. 1. Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 67.)

Ich kann Ihre Auslegung, Heidegger hätte gemeint, dass nicht nur die Nazis, sondern auch die Juden die vollständige Entrassung der Völker betrieben hätten, bei bestem Willen nicht nachvollziehen. Heidegger hat es auch nicht gesagt. Meiner Meinung nach ist Ihre Aus-legung eine Unter-stellung. (Verzeihen Sie mir bitte diesen Vorwurf!) Die Juden haben schon über 2 Jahrtausende friedlich nach dem Rasseprinzip gelebt – und überlebt! Sie haben niemandem jemals dieses Prinzip aufdrängen wollen. Sie mussten im Verlauf ihrer Geschichte immer wieder erfahren, wie eine Ent-schränkung dieses Prinzips durch Andere ihre Existenz bedroht (Judenverfolgungen; Pogrome). Sie haben ständig mit Vertreibung und Auslöschung rechnen müssen. Deshalb haben sie sich – wie Heidegger schreibt – auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur Wehr gesetzt. Die Juden haben nach dem Rasseprinzip (rassisch [biologisch]) gelebt – aber sind nie Rassisten (rassisch [biologisch] & rassig/un-rassig [geistig]) gewesen. Die Nazis hingegen ent-schränkten innerhalb kurzer Zeit dieses Prinzip völlig – und dies bewusst und vorsätzlich! Ihr Ziel war die „Eine Reine Rasse“ durch Auslöschung der anderen „Rassen“ – sie allein waren es, die das Rasseprinzip uneingeschränkt (ohne jegliche Schranken) anwendeten.

 

Die Weltlosigkeit des Judentums (Es liegt einem nichts mehr daran, wie die Welt aussieht.):

„Eine der verstecktesten Gestalten des Riesigen und vielleicht die älteste ist die zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens, wodurch die Weltlosigkeit des Judentums gegründet wird.“
(Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 95 Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 97.)

Dies ist die 5. Überlegung in den Überlegungen VIII. Sie ist – soweit ich es übersehe – die einzige Überlegung, die sich ausschließlich mit dem Judentum beschäftigt.

Ihre Deutung dieser Überlegung:

„In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, ungefähr um 1937, in den „Überlegungen VIII“, tauchen die Juden oder das Judentum unvermittelt zum ersten Mal als Akteure des seinsgeschichtlichen Narrativs auf. […] Eine weitere Variante zielt auf das Rechnen ganz allgemein.“
(Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. 1. Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 33-36.)

Meine Entgegnung:

Ich halte diese Überlegung für eine Schlüsselstelle im Denken von Martin Heidegger über das Judentum. Um sie zu verstehen muss vorab der Begriff Weltlosigkeit geklärt werden. Was meint Heidegger hier mit Weltlosigkeit? In der Vorlesung des Wintersemesters 1929/30 (Die Grundbegriffe der Metaphysik) arbeitet er den Unterschied zwischen leblosen Dingen, dem Tier und dem Menschen heraus. Seine Grundthese lautet: 1. der Stein (das Materielle) ist weltlos; 2. das Tier ist weltarm; 3. der Mensch ist weltbildend. Kann er meinen, die Juden seien keine Menschen? Wohl nicht! Im seinsgeschichtlichen Denken der 30er-Jahre ist für ihn Welt Teil des Gegensatzpaares Erde ↔ Welt. Erde und Welt stehen miteinander im Streit. Später wird er statt Welt – noch mehr die Terminologie Hölderlins übernehmend – Himmel sagen. (Das Geviert: Menschen ↔ Götter / Himmel ↔ Erde) Hier kommen wir schon dem näher, wie meiner Meinung nach „Weltlosigkeit des Judentums“ zu verstehen ist. Erde, der Boden – ein Volk, das keinen eigenen Boden hat, in diesem Sinne bodenlos ist, hat Schwierigkeiten im Streit zwischen Erde und Welt. Ist Weltlosigkeit so gemeint? Oder gibt uns vielleicht eine Stelle des Hauptwerks des seinsgeschichtlichen Denkens (Beiträge zur Philosophie) den entscheidenden Hinweis?

„Die Schwingungsweite des Selbst richtet sich nach der Ursprünglichkeit des Eigentums und damit nach der Wahrheit des Seyns. Verstoßen aus ihr und taumelnd in der Seinsverlassenheit wissen wir wenig genug um das Wesen des Selbst und um die Wege zu echtem Wissen. Denn allzu hartnäckig ist der Vorrang des »Ich«bewusstseins, zumal dieses in mannigfache Gestalten sich verstecken kann. Die gefährlichsten sind jene, in denen das weltlose »Ich« sich scheinbar aufgegeben und hingegeben hat an ein Anderes, das »größer« ist als es und dem es stückhaft oder gliedweise zugewiesen ist. Die Auflösung des »Ich« in »das Leben« als Volk, hier ist eine Überwindung des »Ich« angebahnt unter Preisgabe der ersten Bedingung einer solchen, nämlich der Besinnung auf das Selbst-sein und sein Wesen, das sich bestimmt aus der Zueignung und Übereignung.“
(Martin Heidegger: Gesamtausgabe, III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen, Band 65: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). 3. unveränderte Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2003, S. 321.)

Heidegger schreibt hier von der Preisgabe der Besinnung auf das Selbst-sein und das eigene Wesen (Wer bin ich? Wer sind wir?) und vom Vordrängen des »Ich«bewusstseins (Was bin ich? Was sind wir?).
Wenn diese Sätze in einer Hinsicht auch für die Deutschen im Nationalsozialismus als Massenphänomen zutreffend sind (Die gefährlichsten sind jene, in denen das weltlose »Ich« sich scheinbar aufgegeben und hingegeben hat an ein Anderes, das »größer« ist als es und dem es stückhaft oder gliedweise zugewiesen ist. Die Auflösung des »Ich« in »das Leben« als Volk, …), so ist diese Stelle in den „Beiträgen“ in anderer Hinsicht auch der Schlüssel zum Verständnis des Begriffs Weltlosigkeit, wie ihn Heidegger in Bezug auf das Judentum gebraucht.

Ich möchte hier aber einen anderen Zugang wählen:
Hören wir in einen längeren Ausschnitt aus einem Interview, welches die Philosophin Hannah Arendt, die während ihres Philosophiestudiums bei Martin Heidegger dessen Geliebte war, Günter Gaus gegeben hat. Es wurde am 28.10.1964 im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. In diesem Ausschnitt kommt Arendt auch auf die Weltlosigkeit der Juden zu sprechen:

Gaus: Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf ein Selbstzeugnis von Ihnen kommen. Darin heißt es: „Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt, weder das deutsche, noch das französische, noch das amerikanische, noch etwa die Arbeiterklasse oder was es sonst so noch gibt. Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig. Vor allem aber wäre mir diese Liebe zu den Juden, da ich selbst jüdisch bin, suspekt.“ Darf ich dazu etwas fragen? Bedarf nicht der Mensch als politisch handelndes Wesen der Bindung an eine Gruppe; einer Bindung, die dann bis zu einem gewissen Grade auch Liebe genannt werden kann? Fürchten Sie nicht, daß Ihre Haltung politisch steril sein könnte?
Arendt: Nein. Ich würde sagen, die andere ist politisch steril. Zu einer Gruppe zu gehören, ist erst einmal eine natürliche Gegebenheit. Sie gehören zu irgendeiner Gruppe durch Geburt, immer. Aber zu einer Gruppe zu gehören, wie Sie es im zweiten Sinne meinen, nämlich sich zu organisieren, das ist etwas ganz anderes. Diese Organisation erfolgt immer unter Weltbezug. Das heißt: Das, was diejenigen miteinander gemeinsam haben, die sich so organisieren, ist, was man gewöhnlich Interessen nennt. Der direkte personale Bezug, in dem man von Liebe sprechen kann, der existiert natürlich in der wirklichen Liebe in der größten Weise, und er existiert in einem gewissen Sinne auch in der Freundschaft. Da wird die Person direkt und unabhängig von dem Weltbezug angesprochen. So können Leute verschiedenster Organisationen immer noch persönlich befreundet sein. Wenn man aber diese Dinge miteinander verwechselt, wenn man also die Liebe an den Verhandlungstisch bringt, um mich einmal ganz böse auszudrücken, so halte ich das für ein sehr großes Verhängnis.
Gaus: Sie halten es für apolitisch?
Arendt: Ich halte es für apolitisch, ich halte es für weltlos. Und ich halte es wirklich für ein ganz großes Unheil. Ich gebe zu, daß das jüdische Volk ein Musterbeispiel eines durch die Jahrtausende sich erhaltenden weltlosen Volksverbands ist …
Gaus: „Welt“ im Sinne Ihrer Terminologie verstanden: als der Raum für Politik.
Arendt: Als Raum für Politik.
Gaus: Und so war das jüdische Volk ein apolitisches?
Arendt: Das würde ich nicht ganz sagen, denn die Gemeinden waren natürlich bis zu einem gewissen Grade auch politisch. Die jüdische Religion ist eine Nationalreligion. Aber der Begriff des Politischen galt eben doch nur mit sehr großen Einschränkungen. Dieser Weltverlust, den das jüdische Volk in der Zerstreuung erlitten hat und der, wie bei allen Pariavölkern, eine ganz eigentümliche Wärme zwischen denen erzeugte, die dazugehörten: Dieses hat sich geändert, als der Staat Israel gegründet wurde.
Gaus: Ist damit etwas verlorengegangen, dessen Verlust Sie beklagen?
Arendt: Ja, man bezahlt teuer für die Freiheit. Die spezifisch jüdische Menschlichkeit im Zeichen des Weltverlustes war ja etwas sehr Schönes. Sie sind zu jung, Sie werden das gar nicht mehr gekannt haben. Es war etwas sehr Schönes: dieses „Außerhalb-aller-gesellschaftlichen-Bindungen-Stehen“, diese völlige Vorurteilslosigkeit, die ich sehr stark gerade bei meiner Mutter erlebt habe, die das auch gegenüber der jüdischen Gesellschaft praktizierte. All das hat natürlich außerordentlich großen Schaden genommen. Man zahlt für die Befreiung. Ich habe einmal in meiner „Lessingrede“ gesagt ...
Gaus: ... in Hamburg im Jahre 1959 ...
Arendt: Ja, da sagte ich: „Diese Menschlichkeit überlebt den Tag der Befreiung, der Freiheit nicht um fünf Minuten.“ Sehen Sie, das ist auch bei uns passiert.
Später im Interview wird sie sagen:
„Sehen Sie, die Sache mit dem nur noch Arbeiten und Konsumieren, die ist deshalb so wichtig, weil sich darin wieder eine Weltlosigkeit konturiert. Es liegt einem nichts mehr daran, wie die Welt aussieht.“
(Hannah Arendt, Interview von Günter Gaus, ausgestrahlt im deutschen Fernsehen am 28.10.1964.)

Und damit hat sie eine Definition von Weltlosigkeit gegeben, die – auf die obengenannte Heidegger’sche Überlegung angewandt – diese erst in sich stimmig und der Sache nach logisch erscheinen lässt. – Weltlosigkeit: „Es liegt einem nichts mehr daran, wie die Welt aussieht.“
Aber wie begründet und erklärt Arendt diese von ihr den Juden zugesprochene Weltlosigkeit? Sie erklärt den Weltverlust des jüdischen Volkes mit der jüdischen Diaspora, die ja schon mit der ersten babylonischen Eroberung des Reiches Juda im Jahr 597 v. Chr. begann. Die „Bodenlosigkeit“ (Boden im Sinne eines zusammengehörigen Siedlungsgebietes) der jüdischen Gesellschaft, die zur Weltlosigkeit, dem „Außerhalb-aller-gesellschaftlichen-Bindungen-Stehen“ geführt hat, hat aber auch ausgesprochen positive Effekte: eine völlige Vorurteilslosigkeit und eine eigentümliche Wärme zwischen denen, die dazugehören. Die persönlichen, zwischenmenschlichen Beziehungen haben Vorrang vor dem Politischen. Durch die Gründung des Staates Israel hat dieses Volk seinen „Boden“ nach zweitausend Jahren zurückgewonnen, mit all den positiven und negativen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. (Anmerkung: Darf ich hier eine persönliche Überlegung dazu anstellen: Ich halte die europäische und insbesondere die deutsche Kritik an Israel – z. B. in der Palestinenserfrage – für den Antisemitismus des späten 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Nach der Shoa dürfen – im Sinne der political correctness – die Juden als Juden nicht mehr kritisiert werden, also kritisiert man mit dem Brustton der Überzeugung und dem festen Glauben, selber moralisch im Recht zu sein, den Staat Israel.)
Ich versuche nun eine weitere Annäherung an die Überlegung Nr. 5: Wegen der ständigen Bedrohung in der Verstreutheit – ohne eigenen geschlossenen Siedlungsraum und ohne politische Einheit mit einer eigenen starken Führung – haben die in der Diaspora lebenden Juden ständig damit rechnen müssen, vertrieben, verschoben, zerstreut und durcheinandergemischt zu werden. Sie haben auf Grund dieser Bedingungen eine effektive Gegenstrategie mit einer ganz bestimmten Fertigkeit entwickeln müssen, um überhaupt als Volk überleben zu können. Und diese Fertigkeit konnte nur sein: die zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens.

 

Das Riesige und die zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens:

Aber Heidegger begründet die Weltlosigkeit des Judentums in dieser Überlegung Nr. 5 nicht mit der Diaspora, der Zerstreuung, in welcher das jüdische Volk über Jahrtausende hat leben müssen, sondern mit der zähen Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens als einer der Gestalten des Riesigen. Wie kommt er dazu?

Nehmen wir die Überlegung Nr. 4 zu Hilfe. Sie ist die erste Überlegung, in welcher Heidegger – wenn auch nur kurz am Ende der Überlegung – über das Judentum schreibt. Er spricht über den abendländischen Menschen, den jetzigen Menschen, der sich als Subjekt kennt. In ihr behandelt er auch das Riesige. Und in ihr erwähnt er auch die Bodenlosigkeit und spricht dem Judentum die größere Bodenlosigkeit zu:

Was jetzt geschieht, ist das Ende der Geschichte des großen Anfangs des abendländischen Menschen, in welchem Anfang der Mensch zur Wächterschaft des Seyns berufen wurde, um alsbald diese Berufung umzuwandeln in den Anspruch der Vor-stellung des Seienden in seinem machenschaftlichen Unwesen.
Das Ende dieses ersten Anfangs aber ist kein Aufhören, sondern ein eigenes Beginnen, das aber sich selbst in seiner Wahrheit entzogen bleibt, weil es alles zur bloßen Oberfläche zurechtmachen muß; denn nur noch aus der Einrichtung der Oberfläche und dem Tanz auf dieser kann der jetzige Mensch, so, wie er sich kennt (als Subjektum), sich bestätigt finden. Bestätigung aber braucht er, weil er längst das Wagnis des Seyns verlassen und sich auf die Züchtung und Errechnung aus dem Vorhandenen verlassen hat. Was jetzt als dieses Ende geschieht, bleibt daher gerade denen zuerst und endgültig zu wissen versagt, die ausersehen sind, dieses Ende in seinen endlichsten Formen (d. h. des Riesigen) zu beginnen und das Geschichtslose in der Maske des Historischen als »die« Geschichte auszugeben. Von hier aus gibt es keinen Übergang in den anderen Anfang. Der Übergang muß das Geschichtslose als den äußerlichsten grauen Abschaum einer verborgenen Geschichte erkennen, damit er durch einen weiten fragenden Vorsprung den Menschen in die Geschichte rette.
Im Geschichtslosen kommt dasjenige, was nur innerhalb seiner zusammengehört, auch am ehesten in die Einheit der völligen Vermischung; das scheinbare Aufbauen und Erneuern und die völlige Zerstörung – beides ist dasselbe – Bodenlose – dem nur Seienden Verfallene und dem Seyn Entfremdete. Sobald das Geschichtslose sich »durchgesetzt« hat, beginnt die Zügellosigkeit des »Historismus« -; das Bodenlose in den verschiedensten und gegensätzlichsten Gestalten gerät – ohne sich als gleichen Unwesens zu erkennen – in die äußerste Feindschaft und Zerstörungssucht.
Und vielleicht »siegt« in diesem »Kampf«, in dem um die Ziellosigkeit schlechthin gekämpft wird und der daher nur das Zerrbild des »Kampfes« sein kann, die größere Bodenlosigkeit, die an nichts gebunden, alles sich dienstbar macht (das Judentum). Aber der eigentliche Sieg, der Sieg der Geschichte über das Geschichtslose, wird nur dort errungen, wo das Bodenlose sich selbst ausschließt, weil es das Seyn nicht wagt, sondern immer nur mit dem Seienden rechnet und seine Berechnungen als das Wirkliche setzt.“
Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 95: Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 96-97.)

Das Geschichts- und Bodenlose erscheint in den verschiedensten und gegensätzlichsten Gestalten. Es ist in diesen verschiedensten und gegensätzlichsten Gestalten – mehr oder weniger – an nichts gebunden und macht sich – mehr oder weniger – alles dienstbar. Es ist dem Seyn entfremdet und dem Seienden verfallen – mehr oder weniger. Und die vielen Gestalten der Bodenlosigkeit geraten in die äußerste Zerstörungssucht und Feindschaft zueinander. Sie geraten in einen Kampf gegeneinander, in welchem um die Ziellosigkeit schlechthin gekämpft wird. Weil niemand ein Ziel verfolgt, kann dieser Kampf nur das Zerrbild eines „eigentlichen Kampfes“ sein. Es mag sein, meint Heidegger, dass in diesem Kampf, in dem es um Nichts geht, das Judentum aufgrund seiner größeren Bodenlosigkeit „siegt“. Aber dies ist kein eigentlicher Sieg über sich selbst. Denn das Bodenlose rechnet immer nur mit dem Seienden, d. h. mit dem, was es be-rechnen kann. Nur das Berechenbare zählt für es wirklich – ist für es die Wirklichkeit. Es wagt nicht den Sprung in das Seyn.
Aber hier ist mit der Bodenlosigkeit doch nicht das Fehlen eines eigenen Staates und eines eigenen Siedlungsraumes gemeint. Sicher nicht! Jedoch kann dieses Fehlen im Zusammenwirken mit anderen Bedingungen den „Boden“ für das Überhandnehmen der Bodenlosigkeit, welche ja ein allgemeines Phänomen des Menschentums ist, bilden (Arendt: „Außerhalb-aller-gesellschaftlichen-Bindungen-Stehen“). Das Bodenlose ist das dem nur Seienden Verfallene, es kann sich in der Gestalt des scheinbaren Aufbauen und Erneuern manifestieren oder im Gegensatz dazu in der Gestalt der völligen Zerstörung. Die Gestalt der völligen Zerstörung muss dabei gar nicht die größere Bodenlosigkeit (Un-gebundenheit) sein. Es kann durchaus das scheinbare Aufbauen und Erneuern auf der Grundlage einer größeren Bodenlosigkeit stattfinden. Nicht zuletzt kann aber auch das scheinbare Aufbauen und Erneuern zugleich die völlige Zerstörung sein. – Dies auf allen Gebieten: Architektur (Renovierung eines alten Tempels nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, wodurch aber ungewollt seine Grundsubstanz zerstört wird), Städteplanung (Zerstörung einer gut funktionierenden Nachbarschaft durch den Bau einer modernen Wohnsiedlung), Landwirtschaft (Vernichtung des Bauerntums durch die moderne Landwirtschaft), Kunst (Barockisierung von gotischen Kathedralen), Natur (Zerstörung des hochalpinen Raumes durch Errichtung von touristisch erschlossenen Schigebieten mit allem Drumherum), Umwelt (Zerstörung des Regenwaldes durch Abholzung und Schaffung von landwirtschaftlichen Flächen). Welche grundsätzlichen Eigenschaften sind nötig, um all dieses Erneuern und Aufbauen zustandezubringen? Es ist die Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens. Seien wir ehrlich, ohne diese Geschicklichkeit geht in unserer modernen Welt doch gar nichts mehr. Und am leichtesten geht es, wenn wir (die Sub-jekte) dabei nicht auf ein größeres Ganzes achten und uns nicht an dieses binden, sondern uns mit nichts mehr außer unseren eigenen Pro-jekten identifizieren und einzig und ausschließlich diese verfolgen. Und in dieser Selbstbezogenheit und Ungebundenheit geht es darum, alle Anderen zu übertrumpfen – immer mehr – immer schneller – immer besser – immer größer – grenzenlos – bis ins Riesige gesteigert.
Ich denke dieses Riesige meint Heidegger, wenn er sagt: „Eine der verstecktesten Gestalten des Riesigen und vielleicht die älteste ist die zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens […].

 

Das sind meine Überlegungen zu den beiden Stellen im Band 95 der Heidegger Gesamtausgabe, für die Sie, Herr Trawny, als Herausgeber verantwortlich zeichnen. Der Band 95 hat über 400 Seiten. Ich habe beide Stellen, in denen Heidegger über die Juden und das Judentum schreibt, vollständig zitiert (Überlegungen VIII, Nr. 4 und 5).

 

Bodenlosigkeit der Juden? versus Bodenständigkeit der Deutschen?

Ich zitiere Sie:

„Überhaupt scheint das Gegenteil von allem, was Heidegger philosophisch zu retten suchte – „Bodenständigkeit“, „Heimat“, das „Eigene“, die „Erde“, die „Götter“, die „Dichtung“ etc. – auf das „Weltjudentum“ übertragbar zu sein. […] Sollten gewisse Elemente des seinsgeschichtlichen Narrativs von vornherein eine determinierte Rolle erhalten, sollte z. B. dem „Amerikanismus“ nichts anderes zufallen können als die „Einrichtung des Unwesens der Machenschaft“, sollte daher „alles Grauenhafte im Amerikanismus“ liegen, eben weil der „Amerikanismus“ schlicht unfähig zum „Anfang“ ist, weil er den „Ursprung“ nicht kennt, weil er ein Spross des „Riesengeschäfte“ treibenden Englands ist, ist dann die Seinsgeschichte selbst nicht antisemitisch?!“
(Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. 1. Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 53-56.)

„Bodenständig“ kommt in den Überlegungen VII-XI 3-mal vor, in den Überlegungen XII-XV 2-mal – jedoch nie im Zusammenhang mit den Deutschen, aber 1-mal in den Überlegungen XII-XV in explizitem Zusammenhang mit dem Russentum. Und hier stellt Heidegger einen unmittelbaren Gegensatz des Russentums gegenüber dem Amerikanertum und den Engländern her. Ich zitiere wieder die ganze Überlegung. – Man hat beim Lesen dieser Zeilen nicht das Gefühl, dass sie in den 1930er Jahren geschrieben wurden, man fühlt sich in die Gegenwart versetzt. Spiegeln diese Zeilen nicht haarscharf die Kritik an der amerikanischen Politik und Lebensweise wider, wie sie seit 9/11 die europäische und vor allem die deutsche Öffentlichkeit dominiert?

„Der Amerikanismus ist die historisch feststellbare Erscheinung der unbedingten Verendung der Neuzeit in die Verwüstung. Das Russentum hat in der Eindeutigkeit der Brutalität und Versteifung zugleich ein wurzelhaftes Quellgebiet in seiner Erde, die sich eine Welteindeutigkeit vorbestimmt hat. Dagegen ist der Amerikanismus die Zusammenraffung von Allem, welche Zusammenraffung immer zugleich die Entwurzelung des Gerafften bedeutet. Sobald dieses in die Beständigkeit des rein geschichtlich Machbaren erhoben und unbedingt wird, ist zwar stets Alles habhaft, aber zugleich auch Jegliches um seinen Ursprung gebracht. In diese metaphysische Zone der Verwüstung reicht das Russentum nicht hinab; denn es hat, unabhängig vom »Sozialismus«, in sich eine Anfangsmöglichkeit, die allem Amerikanertum zum voraus versagt bleibt. Das Russentum ist trotz allem zu bodenständig und vernunftfeindlich, als daß es imstande sein könnte, die geschichtliche Bestimmung der Verwüstung zu übernehmen. Um die Seinsvergessenheit zu übernehmen und als eine solche einzurichten und als Haltung zu beständigen, dazu bedarf es einer im höchsten Grade fertigen und alles berechnenden Vernünftigkeit, die man, wenn man will, auch noch »Geistigkeit« nennen kann. Nur dieser »Geist« bleibt der geschichtlichen Aufgabe der Verwüstung gewachsen. Die Bedientenrolle innerhalb dieser Verwüstung hat das »Herrenvolk« der Engländer übernommen. Die metaphysische Nichtigkeit ihrer Geschichte kommt jetzt an den Tag. Sie suchen nur diese Nichtigkeit zu retten und leisten damit ihren Beitrag zur Verwüstung.“
(Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 96: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 257-258.)

Heidegger schreibt also dem Russentum eine starke Bodenständigkeit zu (nicht dem politischen System des Bolschewismus!). Ich habe bei Heidegger keine Stelle gefunden, in welcher er der Bodenlosigkeit des Judentums eine Bodenständigkeit des Deutschtums gegenübergestellt hätte – diese Gegenüberstellung scheinen Sie gemacht zu haben! (Ich hoffe, ich irre mich nicht; wenn doch, dann bitte ich um Entschuldigung!) Jedoch spricht Heidegger in der Überlegung Nr. 4 vom Bodenlosen in den verschiedensten und gegensätzlichsten Gestalten.

Spannen wir den Boden von der Überlegung VIII, Nr. 4 wieder zurück zur – allerdings später verfassten – Überlegung XII, Nr. 38:

Dazu wieder eine Stelle aus Ihrem Buch:

„Das „Weltjudentum“ muss ihm als ein Volk oder als die Gruppe eines Volkes erschienen sein, das/die in höchster Selbstkonzentration kein anderes Ziel verfolgte als die Zersetzung aller anderen Völker: eine „Rasse“, die bewusst die „Entrassung der Völker“ betrieb.“
(Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. 1. Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 67.)

Wenn im Kampf des Bodenlosen in den verschiedensten und gegensätzlichsten Gestalten um die Ziellosigkeit schlechthin gekämpft wird, wieso nehmen Sie dann an, dass das Weltjudentum in den Augen Heideggers das Ziel verfolgt hätte, alle anderen Völker zu zersetzen? Sein Ziel wäre die bewusste Auslöschung aller anderen Rassen gewesen? Verwechseln Sie da nicht die Juden mit den Nationalsozialisten? Es waren doch die Nationalsozialisten, die explizit eine Politik der Entrassung betrieben haben. Die Juden hingegen haben sich – wie Heidegger betont – am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung des Rasseprinzips, d. h. gegen den Rassismus zur Wehr gesetzt.

 

Sein und Haben:

Ich finde, Heideggers 24. Überlegung der Überlegungen XII, aus welcher Sie den letzten Teil, der sich auf das Judentum und explizit auch auf seinen Lehrer Husserl bezieht, herausgeschnitten haben, sollten wir als Ganze be-denken. Denn sonst laufen wir Gefahr, dass wir das Denken Heideggers verfehlen. Sie assoziieren – im Versuch in das Denken Heideggers einzuspringen – Judentum und Geld. Ich bin nicht der Meinung, dass Sie mit Ihrer Interpretation in seinem Denken gelandet sind.

„Die Geschichte des abendländischen Menschen – gleichgültig ob er sich in Europa aufhält oder anderswo – hat sich langsam auf eine Lage vorgeschoben, in der alle sonst vertrauten Bezirke wie »Heimat«, »Kultur«, »Volk«, aber auch »Staat« und »Kirche«, aber auch »Gesellschaft« und »Gemeinschaft« die Zuflucht verweigern, weil sie selbst zu bloßen Vorwänden herabgesetzt und dem beliebigen Vorschub preisgegeben sind, dessen bewegende Mächte unkenntlich bleiben und ihr Spiel lediglich darin verraten, daß sie den Menschen in die Gewöhnung zur je aufdringlicheren Massenhaftigkeit zwingen, deren »Glück« sich darin erschöpft, ohne Entscheidungen auszukommen und in der Meinung sich zu betäuben, immer mehr in ihren Besitz und Genuß zu bringen, weil das Besitzwürdige stets geringer und gehaltloser wird. Die einzige und dazu notwendig unechte Angst, die eine solche Lage noch zuläßt, ist die Furcht, dieser Menschenbetrieb könnte durch neue Kriege plötzlich ein Ende nehmen und alles abhanden kommen; denn wo die Versteifung auf das Vorhandene als Besitz und Beherrschung des Seienden gilt, schrumpft das Unglück auf den Zustand ein, in dem und durch den alles Vorhandene der Beseitigung unterliegen muß.
Wo könnte hier noch eine Spur jener Angst erwachen, die erkennt, daß eben die Vormacht des Vorhandenen und die Unbedürftigkeit gegenüber Entscheidungen, das ungreifbar um sich greifende Anwachsen der Bestimmung zu dieser Lage bereits und allein nicht nur Zerstörung, sondern die Verwüstung ist, deren Herrschaft durch Kriegskatastrophen und Katastrophenkriege nicht mehr angetastet, sondern nur noch bezeugt werden kann. Ob das Herdenwesen des Menschen, sich selbst überlassen, durch seine Vergemeinerung den Menschen zur Vollendung seiner Tierheit treibt, oder ob Rudel von Gewalthabern die auf das Höchste durchgegliederten und »einsatzbereiten« Massen der völligen Entscheidungslosigkeit zujagen, ob also eine »Rangordnung« innerhalb des endgültig festgestellten Tieres im Sinne des »Übermenschen« noch aufgezüchtet werden kann oder nicht, das bringt in den metaphysischen Charakter des Seienden im Ganzen keine wesentliche Änderung. Mit der kältesten Kühnheit und unter Abwehr jedes Zudrängens »moralischer« Wertungen und »pessimistischer« Stimmung muß der denkerische Blick die Vollendung der metaphysischen Geschichte des Seienden vor und um sich haben, damit die Luft für anfängliche Entscheidungen rein und klar das Fragen der Besinnung durchwehe. Zu wissen gilt hier, daß die Verwüstung innerhalb der Bezirke der »Bildung« und des »Kulturbetriebes« schon wesentlich weiter fortgeschritten ist als im Feld der gröberen Besorgung der Lebensbedürfnisse. Entsprechend hat sich hier – bei den vergeblichen Hütern des geistigen Erbes – eine höhere Geschicklichkeit im Verzicht auf wesentliche Besinnung ausgebildet. In die Entsprechung locken und steigern sich auf der einen Seite die Entmachtung aller Verwurzelungsbereiche zugunsten der Ermächtigung der durchgängigen Machenschaft und auf der Gegenseite der Verzicht des Massenmenschentums auf alle Entscheidungs- und Maßstabsansprüche. Durch diese sich ausweitende Entsprechung entsteht eine unsichtbare Leere, deren verborgenes Wesen aus der noch leitenden metaphysischen Grundstellung nicht begriffen werden kann, zumal sie sich im Anschein ihres Gegenteils zum Ansehen bringt: als bedingungslose Eingliederung des Menschen in die Machenschaft des Seienden im Ganzen – dies oft noch unter Berufung auf geschichtliche Herrschaftsformen, denen bereits jeder Boden weggezogen ist – z. B. meint heutiges Soldatentum noch auf »Preußentum« sich berufen zu können; es ist im Wesen gewandelt und sogar schon etwas anderes als der Krieger der letzten Weltkriegsjahre – abgesehen davon, daß aus diesem Bereich menschlichen Handelns, wenngleich er in einer eigengefügten Härte vor den Tod stellt, schöpferische geschichtliche Entscheidungen nie entspringen können – sondern nur Formen einer stets mittel-haften Zucht, die ins »Totale« erweitern zu wollen, einer groben Unwissenheit um das Wesen des Seyns und seiner Jenseitigkeit zur Macht und Ohnmacht gleichkommt.
Aus demselben Grunde aber ist auch jeder »Pazifismus« und jeder »Liberalismus« außerstande, in den Bezirk wesentlicher Entscheidungen vorzudringen, weil er es nur zum Gegenspiel gegen das echte und unechte Kriegertum bringt. Die zeitweilige Machtsteigerung des Judentums aber hat darin ihren Grund, daß die Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen Entfaltung, die Ansatzstelle bot für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechenfähigkeit, die sich auf solchem Wege eine Unterkunft im »Geist« verschaffte, ohne die verborgenen Entscheidungsbezirke von sich aus je fassen zu können. Je ursprünglicher und anfänglicher die künftigen Entscheidungen und Fragen werden, umso unzugänglicher bleiben sie dieser »Rasse«. (So ist Husserls Schritt zur phänomenologischen Betrachtung unter Absetzung gegen die psychologische Erklärung und historische Verrechnung von Meinungen von bleibender Wichtigkeit – und dennoch reicht sie nirgends in die Bezirke wesentlicher Entscheidungen, setzt vielmehr die historische Überlieferung der Philosophie überall voraus; die notwendige Folge zeigt sich alsbald im Einschwenken in die neukantische Transzendentalphilosophie, das schließlich einen Fortgang zum Hegelianismus im formalen Sinne unvermeidlich machte. Mein »Angriff« gegen Husserl ist nicht gegen ihn allein gerichtet und überhaupt unwesentlich – der Angriff geht gegen das Versäumnis der Seinsfrage, d. h. gegen das Wesen der Metaphysik als solcher, auf deren Grund die Machenschaft des Seienden die Geschichte zu bestimmen vermag. Der Angriff gründet einen geschichtlichen Augenblick der höchsten Entscheidung zwischen dem Vorrang des Seienden und der Gründung der Wahrheit des Seyns.)“
(Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 96: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 44-47.)

Meine Über-legungen zu Überlegung Nr. 24:

Die Grundthese dieser Überlegung lautet: Wohin wir auch schauen, überall macht sich eine Entwurzelung des durch die abendländische Philosophie geprägten Menschen breit. Wir können es eine zunehmende Ent-geistigung nennen – im Sinne des völligen Verschwindens einer echten Spiritualität. Stattdessen drängt sich die moderne ausschließlich mathematisch geprägte Naturwissenschaft vor und nimmt de facto den Raum ein, den einst der Geist, d. h. die Spiritualität, innehatte. Die immer exakter werdende Be-rechnung ersetzt die Be-sinnung. In seinem seinsgeschichtlichen Denken verortet Heidegger den Beginn dieser Entwicklung bei Platon und dessen Ideenlehre. Das ursprünglich gestalt-lose >„wesen“ der Dinge< (wesen = sein [Zeitwort]) – im Sinne eines Geschehens – wurde bei Platon zu den >Ideen< und damit zu – gestalt-haften – „Wesen“ (Wesen = Seiendes [Hauptwort]). War zuvor das >wesen der Dinge< unsichtbar gewesen, so waren nunmehr die gestalt-haften >Wesen der Dinge< (die Ideen) als etwas Seiendes zu etwas Sichtbarem geworden. Die Ideen waren allerdings nicht un-mittelbar sichtbar, da sie sich in einer jen-seitigen und damit für unser gewöhnliches Sehen un-sichtbaren Welt befanden. Die Ver-wandlung des gestalt-losen „wesens“ zu gestalt-haften „Wesen“ führte auch dazu, dass das „göttliche“ zu einem „Gott“ wurde, von dem nun – in Umkehrung der ursprünglichen Verhältnisse – das „göttliche“ ausging. Nicht mehr das „göttliche“ war der Ursprung der „Götter“, sondern „Gott“ wurde zum Ursprung des „göttlichen“. Zuvor unterstanden die gestalt-haften „Götter“ dem gestalt-losen Schicksal. (Über den „Göttern“ und den Menschen waltet das Schicksal [Schicksal = Seyn].) Diese Um-kehrung wurde durch ein weiteres Ereignis mit-angestoßen: dem Monotheismus des jüdisch-christlichen Glaubens. Der „Eine Gott“ unterstand nicht mehr den „mächten“ des Schicksals [des Seyns], sondern wurde selbst der All-mächtige. Er war nun der Ur-sprung aller Macht, derjenige, von dem alle Macht ausging. Das „göttliche“ und das „heilige“ kann ich in mir spüren, einen „Heiligen“, auch wenn er sich nicht heilig verhält, kann ich sehen, einen „Gott“ kann mir vor-stellen, d. h. im Geiste sehen, mir ein Bild von ihm machen. Das Sehen gewann den Vorrang vor dem Spüren. – Dies war der 1. Sprung: weg vom Ur-sprung, weg vom gestalt-losen, d. h. nicht sichtbaren bzw. nicht vorstellbaren Seyn hin zur Fokussierung auf das gestalt-hafte und deshalb sichtbare bzw. vorstellbare Seiende. Der 2. Sprung ereignete sich am Übergang in die Neuzeit mit der Mathematisierung der Welt: Nur was mathematisch be-rechenbar ist, hat Wirklichkeit. Alles andere gibt es in Wirklichkeit nicht. Gab es zuvor in einer über-sinnlichen Welt „Götter“ und „Dämonen“, so verschwanden diese, da sie nicht be-rechenbar und er-rechenbar sind. Mit ihnen verschwand auch die ganze übersinnliche Welt. Aber es verschwand mit ihnen noch etwas aus unseren Köpfen und Herzen: das „dämonische“, das „göttliche“ und das „heilige“ an sich. Nichts mehr ist dem modernen Menschen „heilig“. Nur noch das wissenschaftlich Beweisbare zählt und hat Realität. Die Mathematik ebnet alles ein, wodurch bzw. damit es zähl-bar, d. h. quantitativ erfassbar wird. Alles erhält eine unterschiedslose, leere Gleichförmigkeit – wie die Zahlen, welche ja auch alle qualitativ gleich sind. Der Mensch wird dem Tier gleichgesetzt (animal rationale), das Tier wird gleich einem Ding behandelt. Unterschiede werden ausgemerzt. Es geht nicht mehr um Qualität, es zählt nur noch Quantität. Der 1. Sprung, vollzogen von Platon mit seiner Ideenlehre, war vom Sein zum Haben. Denn Ideen „haben“ wir. Das Seyn geriet in Vergessenheit. Der 2. Sprung, die Mathematisierung der Welt, führte weg von der Qualität mit all ihren unterschiedlichen Eigenschaften und Beschaffenheiten hin zur homogenen Quantität, bei welcher der einzig noch verbliebene Unterschied der von Menge und Größe ist. Es geht nicht mehr um das Sein, sondern es zählt nur noch das Haben. Es geht nicht mehr um das >Wer bin ich?< und >Wer sind wir?<, sondern um das >Was habe ich?< und >Was haben wir?< Es geht nicht mehr um das >Wohin gehöre ich?<, sondern um das >Was gehört mir?< Es geht um die In-Besitz-nahme. Besitzen, den Besitz genießen – und ihn vergrößern, immer mehr und mehr – den Besitz steigern ins Riesige! Der Besitz muss nichts Materielles sein. Er kann sich durchaus auch aus „geistigen Gütern“ zusammen-setzen. Jemand kann auf einem Gebiet das größte Wissen „haben“, ohne je wissend zu „sein“. Aber was ist aus den Mächten und dem Mächtigen geworden? War das „mächten“ ursprünglich ein Merkmal des Schicksals (Seyns), nämlich sein „un-wesen“, so sprang es in der Folge über auf den „Einen Gott“, der zum All-mächtigen wurde. Mit dem Verschwinden des „Einen Gottes“ ist nun alle Macht losgelassen und ungebunden – bereit von irgendjemandem aufgefangen und an irgendetwas für kurze Zeit fest-gemacht zu werden.
Dies ist eine Kurzfassung der Entwicklung der Metaphysik von ihrem Beginn bei Platon bis zu ihrem Ende bei Nietzsche. An diesem Ende stehen wir noch immer und das wohl auf lange Zeit hin. Machenschaft, Macht und Besitz-nahme sind entfesselt, weil unsere Zeit – das Ende der Metaphysik, d. h. unser modernes mathematisch-naturwissenschaftliche Weltbild –, genau genommen keine Bindung mehr an »Heimat«, »Kultur«, »Volk«, aber auch nicht an »Staat«, »Kirche«, »Gesellschaft« und »Gemeinschaft« zulässt. Das scheinheilige und vollmundige Sich-berufen auf Heimat, Kultur, Volk, Gemeinschaft usw. der Mächtigen dient nur noch als Vorwand, um die eigene Macht zu sichern und zu steigern, da auch die Mächtigen in Wahrheit an nichts mehr gebunden sind und an nichts mehr glauben. „Ob das Herdenwesen des Menschen, sich selbst überlassen, durch seine Vergemeinerung den Menschen zur Vollendung seiner Tierheit treibt (Liberalismus, Amerikanismus), oder ob Rudel von Gewalthabern die auf das Höchste durchgegliederten und »einsatzbereiten« Massen der völligen Entscheidungslosigkeit zujagen (Nationalsozialismus, Bolschewismus), ob also eine »Rangordnung« innerhalb des endgültig festgestellten Tieres im Sinne des »Übermenschen« noch aufgezüchtet werden kann oder nicht, das bringt in den metaphysischen Charakter des Seienden im Ganzen keine wesentliche Änderung.“ Denn wir sind alle Gefangene unserer neuzeitlichen mathematischen Weltsicht am Ende des Zeitalters der Metaphysik. Wir sind wurzellose Massenmenschen.
Besonders scheuen sich die im Kultur-betrieb tätigen Hüter des geistigen Erbes – in ihrem Bestreben, dem gängigen naturwissenschaftlichen Weltbild und der Moderne zu entsprechen – vor einer wesentlichen Besinnung. Auch aus dem Soldatentum kann niemals eine schöpferische geschichtliche Entscheidung entspringen, – sondern nur Zucht (Selbstzucht und Züchtigung anderer). Und wenn jemand die Zucht ins »Totale« erweitern will, zeigt dies nur, dass er vom „eigentlichen wesen“ des Seyns keine Ahnung hat, weil Macht und Ohnmacht das „un-wesen“ des Seyns sind und mit dem „eigentlichen wesen“ des Seyns nichts zu tun haben. Aus demselben Grunde können auch der »Pazifismus« und der »Liberalismus« nicht in den Bezirk wesentlicher Entscheidungen vordringen, weil sie lediglich Gegenspieler des Kriegertums sind. Die jüdische Kultur konnte sich zwei Jahrtausende auf keinen eigenen Staat stützen. Die Juden mussten ständig mit Verfolgung und Vertreibung rechnen. Sie waren aufgrund ihres besonderen Status der Heimatlosigkeit (Bodenlosigkeit) dazu gezwungen, sich mit anderen Mitteln vor Bedrohungen zu schützen als ihre Nachbarn, die auf das Soldatentum zurückgreifen konnten. Die An-eignung des neuzeitlichen, modernen mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltbildes, in welchem Rationalität und Berechnung die Hauptrolle spielen, bot sich dazu an. Aber dieses dem Fort-schritt verpflichtete Weltbild ist weit vom Ur-sprung fort-geschritten. Es bietet Sicherung ausschließlich durch Haben und es verhindert Besinnung auf das Wesentliche. Alle Versuche, sich auf dem Wege der neuzeitlichen, modernen mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltauffassung eine Unterkunft im »Geist« zu verschaffen, müssen scheitern (so z. B. die Bemühungen Husserls). Heideggers Angriff gilt nicht nur der modernen Naturwissenschaft, sondern der Metaphysik insgesamt. Es liegt im Wesen der Metaphysik, die mit der Ideenlehre Platons ihren Anfang nimmt, sich auf das Seiende und damit auf Besitz und Haben zu fokussieren und auf das Sein und damit auf das „wesen-tliche“ zu vergessen. Mit den Worten Heideggers ausgedrückt: „Mein […] Angriff geht gegen das Versäumnis der Seinsfrage, d. h. gegen das Wesen der Metaphysik als solcher, auf deren Grund die Machenschaft des Seienden die Geschichte zu bestimmen vermag.“ Denn das Wesentliche kann der Mensch nie be-sitzen, er kann nur wesentlich sein. Und so ist die eigentliche Ent-scheidung, um die es Heidegger immer geht, die Ent-scheidung zwischen Sein und Haben.

 

Heideggers Ohr für Hitlers Reden und die angebliche Konkurrenz zwischen Nationalsozialisten und Juden:

„Auch der Gedanke einer Verständigung mit England im Sinne einer Verteilung der ‚Gerechtsamen‘ der Imperialismen trifft nicht ins Wesen des geschichtlichen Vorgangs, den England jetzt innerhalb des Amerikanismus und des Bolschewismus und d. h. zugleich auch des Weltjudentums zu Ende spielt. Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche ‚Aufgabe‘ übernehmen kann.“
(Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 96: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 243.)

Dieses Zitat stammt aus der letzten Überlegung von Heideggers Überlegungen XIV.
Aus Ihrem Kommentar dazu:

„Heidegger hatte ein Ohr für Hitlers Reden. […] Die „Machenschaft“ kann deshalb die „vollständige Entrassung der Völker“ betreiben, weil die Juden „schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden“ erstreben.“
(Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. 1. Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 48.)

Und Ihre Anmerkung 31 auf derselben Seite:

31 „Was oder wer ist „England“? […] Ohne dass diese Aussage über England erschöpfend Auskunft gibt, hat die Behauptung, es gehe England in der Zerstörung Deutschlands um ein „Riesengeschäft“, im vorliegenden Kontext eine antisemitische Tendenz.“
(Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. 1. Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 48.)

Mit Ihrem Satz „Heidegger hatte ein Ohr für Hitlers Reden.“ deuten Sie an, dass sich diese Überlegung Heideggers möglicherweise auf eine Rede Hitlers bezieht. Aber Sie verschweigen, welche es genau ist. Hitler hielt sie am 22. Juni 1941. Die drittletzte Überlegung aus Heideggers Überlegungen XIV bezieht sich explizit auf sie. Ich vermute, dass sich nicht nur die drittletzte, sondern in der Tat auch die beiden darauf folgenden Überlegungen auf diese Hitlerrede beziehen und wir sie deshalb zusammen lesen müssen.
Ich zitiere die drei letzten Überlegungen der Überlegungen XIV ganz:

Der Ausbruch des Krieges gegen den Bolschewismus hat viele Deutsche, die sich sorgten wegen einer vermeintlich allzu engen Verbindung mit Rußland, endlich von dieser Last befreit. Erst spätere Zeiten werden das »Dokument« recht würdigen können, das am Morgen des 22. Juni 1941 der Weltöffentlichkeit bekannt wurde. Schon der erste Satz gewährt einen Einblick in die Zeit, die unmittelbar dem Kriegsausbruch voraufging: »Von schweren Sorgen bedrückt, zu monatelangem Schweigen verurteilt, ist nun die Stunde gekommen, in der ich endlich offen sprechen kann.«

Zugleich kommt jetzt die »Hinterhältigkeit« der bolschewistischen Politik an den Tag. Der Jude Litwinow taucht wieder auf. Zu dessen 60. Geburtstag schrieb der Chefredakteur der Moskauer »Iswestija«, der bekannte Kommunist Radek, folgenden Satz: »Litwinow hat bewiesen, daß er es versteht, nach bolschewistischer Art, wenn auch nur zeitweilig, Bundesgenossen zu suchen, wo sie eben zu finden sind«.

Warum erkennen wir so spät, daß England in Wahrheit ohne abendländische Haltung ist und sein kann? Weil wir erst künftighin begreifen werden, daß England die neuzeitliche Welt einzurichten begann, die Neuzeit aber ihrem Wesen nach auf die Entfesselung der Machenschaft des gesamten Erdkreises gerichtet ist. Auch der Gedanke einer Verständigung mit England im Sinne einer Verteilung der »Gerechtsamen« der Imperialismen trifft nicht ins Wesen des geschichtlichen Vorgangs, den England jetzt innerhalb des Amerikanismus und des Bolschewismus und d. h. zugleich auch des Weltjudentums zu Ende spielt. Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische‚ sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als weltgeschichtliche »Aufgabe« übernehmen kann.“

(Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 96: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 242-243.)

Meiner Meinung nach sind bei der Interpretation dieser Stelle 2 Aufgaben zu leisten:
Erstens die Interpretation der letzten Überlegung in Hinblick auf ihren philosophischen Inhalt.
Zweitens die Interpretation aller 3 Überlegungen in Hinblick auf Hitlers Rede zum Kriegseintritt gegen die Sowjetunion aus psychologischer Sicht. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass psychologische Interpretationen immer nur Vermutungen darstellen und deshalb meist an der Sache vorbeigehen und in die Irre führen. Dennoch traue ich mir aufgrund meiner jahrzehntelangen beruflichen Erfahrung auf diesem Gebiet zu, mit meinen Interpretationen bisweilen den Kern einer Sache zu treffen.

Zu Erstens (Hinblick auf den philosophischen Inhalt):

Heidegger beginnt die Überlegung mit der These: England ist ohne abend-ländische Haltung – d. h. es ist auf den Auf-gang fokussiert und achtet nicht auf das Wesen des Unter-gangs, der ja laut Heideggers seinsgeschichtlichem Denken erst den Auf-gang ermöglicht.
Eine mögliche Auslegung: Der Fokus Englands ist nicht darauf gerichtet, was es alles weglassen kann, auf dass ihm sein Wesentliches bleibe, sondern ist auf Brauchen, auf ein Immer-mehr-und-mehr, auf das Macht-euch-die-Welt-untertan – auch im Sinne des Kolonialismus – gerichtet – und dies in entfesselter Weise. Aber Imperialismus und Kolonialismus sind nur eine der Folgen, die die englische Grundhaltung zeitigte. Englands Rolle in der Weltgeschichte ist eine grundlegende: es ist die des Bahnbrechers der neuzeitlichen Welt, der berechnenden Eroberung und Durchdringung des gesamten Erdkreises. War es die Rolle der Griechen, den Auf-gang des Seienden philosophisch zu bewältigen, so war es die Rolle Englands, die mathematische Durchdringung des eröffneten Seienden als erster in Angriff zu nehmen. Weil es seine ihm überantwortete Aufgabe übernahm, konnte es wachsen und gedeihen, ohne je den Untergang philosophisch im Blick zu haben. Aber seine Rolle geht nun schon dem Ende zu, es verliert seinen Führungsanspruch. England hat seine Aufgabe als Vorreiter der neuzeitlichen Welt, und damit auch seine welterobernde und -beherrschende, d. h. imperialistische Rolle, erfüllt. Das Samenkorn der mathematischen Durchdringung alles Seienden, der berechnenden Eroberung der Welt und damit auch das Immer-mehr-und-mehr ist besonders im Amerikanismus und im Bolschewismus aufgegangen. Man verfehlt das Wesen des neuzeitlichen Imperialismus und die Rolle, die England dabei spielt, wenn man versucht, einen guten, d. h. englischen und amerikanischen, von einem bösen, d. h. bolschewistischen Imperialismus, zu unterscheiden.
Auch bei der Verbindung, die Heidegger zwischen England und dem Weltjudentum herstellt, geht es um die Rolle Englands als Wegbereiter der die ganze Welt umspannenden mathematischen-berechnenden Durchdringung alles Seienden, die zwangsläufig auch eine Entfesselung der Machenschaft des gesamten Erdkreises zur Folge hat. Genauso wie sich die englische Philosophie und naturwissenschaftliche Weltauffassung im Amerikanismus und Bolschewismus verwirklicht, durchsetzt sie auch das Weltjudentum (Anmerkung: im Gegensatz zum religiösen Judentum). Heidegger schreibt ja dem Weltjudentum Ungebundenheit und Entwurzelung auf der Grundlage von Boden- und Weltlosigkeit und damit zusammenhängend die zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens zu. Alle diese Zuschreibungen betreffen jedoch nicht nur das Weltjudentum, sondern sind in Wahrheit eine Beschreibung des neuzeitlich-modernen Menschen an und für sich. Es geht nicht um irgendwelche spezifische Eigenschafen der Juden. Es ist die Frage nach möglichen Eigenheiten des Menschen an und für sich, wenn er sich in einer bestimmten weltgeschichtlichen Lage befindet. Die Frage zielt ab auf den Menschen, der sich an nichts mehr gebunden fühlt, an keine Religion, an keinen Staat, an kein Volk, an keine Gemeinschaft. Er hat seine Wurzeln im Sein verloren, es berührt ihm kein höheres Ganzes mehr. Ihm geht es nicht mehr um das Sein, sondern nur noch um das Haben. Und so endet diese letzte Überlegung mit der Frage: Wie steht es um den Menschen, der aufgrund seiner weltgeschichtlichen Stellung die Möglichkeit hat, schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als seine »Aufgabe« zu übernehmen? Wie steht es um den Menschen der Moderne?

Zu Zweitens (Hinblick auf Hitlers Rede zum Kriegseintritt gegen die Sowjetunion aus psychologischer Sicht):

Der Knackpunkt ist: Wie ist die erste der drei Überlegungen zu verstehen? Die angesprochene Rede ist Hitlers Rechtfertigung des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, obwohl zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion ein Nichtangriffspakt bestand. Ich verstehe die Überlegung so: Heidegger war der Meinung, dass Hitler trotz aller gegenteiligen Versicherungen schon lange einen Krieg gegen die Sowjetunion geplant hatte – und mit dem ersten Satz der Rede mehr oder minder ungewollt seine Kriegsabsicht und ihre bewusste Vertuschung verriet. Heidegger bezichtigte damit Hitler der Lüge. – Ein gefährliches Unterfangen, auch wenn er seinen Angriff auf Hitler in dieser Überlegung bis zu einem gewissen Grad verschlüsselt formulierte. In der Folge bekam er Angst und nahm in den beiden folgenden Überlegungen noch einmal auf die Hitlerrede, die nur so von diffamierenden Angriffen auf die Bolschewiken, Engländer, Amerikaner und Juden strotzt, Bezug. Die vorletzte Überlegung Heideggers hebt die Hinterhältigkeit der bolschewistischen Politik hervor. Er hielt sie wohl wirklich für hinterhältig, wie er auch die Politik Hitlers für hinterhältig hielt. Um seine obwohl verschlüsselte, aber dennoch möglicherweise zu offensichtlich vorgebrachte Kritik an Hitler weiter zu verdecken, präsentierte er gleich einen „bösen“ Juden dazu. In der letzten Überlegung nahm Heidegger dann alle vier von Hitler diffamierten Völker bzw. Staaten ins Visier, um sein Urteil über Hitler noch mehr zu verschleiern. – Aber meine Überlegung ist eine psychologische Erklärung und damit – wie jegliche psychologische Erklärung – nichts anderes als eine bloße Ver-mutung.

 

Die neuzeitliche mathematische Naturwissenschaft – die Griechen – die Juden:

„ […] ist es abwegig, die „Geschicklichkeit des Rechnens“ allein auf die Philosophie der Neuzeit zu beziehen. […] Der Jude erscheint als das von der „Machenschaft“ beherrschte, weltlos kalkulierende Subjekt, das sich rechnend „eine Unterkunft im ‚Geist‘ verschafft“ haben soll. In diesem Sinne wird dann wohl genau diese „Unterkunft“ als Ziel von Heideggers „Angriff“ gelten dürfen.
11 Was auch Heidegger weiß, wenn er schreibt: „Die mathematische Wissensidee zu Beginn der Neuzeit – selbst im Grunde antik – […].“ […] Umso mehr kann man sich fragen, warum er diese Einsicht nicht festgehalten und ausgebaut hat.“
(Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. 1. Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 37-39.)

Darf ich Sie, Herr Trawny darauf hinweisen, dass Heidegger sehr wohl die Idee vertrat, dass die Mathesis auch im mathematischen Sinne ihren Ursprung im griechischen Denken hat. Er hielt diese Einsicht nicht nur fest, sondern führte sie auch eingehend in der im Wintersemester 1935/36 unter dem Titel >Grundfragen der Metaphysik< gehaltenen Vorlesung aus. Diese Vorlesung wurde noch zu Heideggers Lebzeiten im Jahre 1962 unter dem Titel „Die Frage nach dem Ding“ im Verlag Max Niemeyer veröffentlicht, die 3. Auflage erschien im Jahre 1987. Nebenbei sei bemerkt, dass in der ganzen Vorlesung keine einzige Bezugnahme auf die Juden oder das Judentum vorkommt. Ich empfehle Ihnen besonders die Seiten 49 – 83 durchzulesen.

 

Können Juden zugleich Deutsche sein?

„Immerhin finden sich auch bei ihm mindestens zwei Formulierungen, die anscheinend darauf schließen lassen, dass er in Bezug auf Juden Ausnahmen machte. […] Die andere betrifft Lessing, den er einmal ostentativ einen „deutschen Denker“ nennt – und gerade damit indirekt als einen jüdischen markiert.“
(Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. 1. Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014, S. 83.)

Darf ich dazu Hanna Arendt zitieren. Sie sagte im Interview mit Günter Gauss wörtlich:

„Ich, zum Beispiel, glaube nicht, daß ich mich je als Deutsche – im Sinne der Volkszugehörigkeit, nicht der Staatsangehörigkeit, wenn ich mal den Unterschied machen darf – betrachtet habe. Ich besinne mich darauf, daß ich so um das Jahr ‘30 herum Diskussionen darüber zum Beispiel mit Jaspers hatte. Er sagte: „Natürlich sind Sie Deutsche!“ Ich sagte: „Das sieht man doch, ich bin keine!“ Das hat aber für mich keine Rolle gespielt.“

Mich würde Ihre Meinung interessieren, Herr Trawny! War Lessing kein deutscher Denker? War er ein jüdischer Denker? Was unterscheidet Ihrer Meinung nach einen deutschen von einem jüdischen Denker? Kann jemand zugleich deutscher und jüdischer Denker sein? Wer entscheidet das? Er selber? Darf man überhaupt deutscher Denker bzw. jüdischer Denker sagen? Darf man amerikanischer Denker, französischer Denker sagen? – War Hanna Arendt eine deutsche oder eine jüdische Philosophin? Oder war sie eine amerikanische oder eine deutsch-jüdisch-amerikanische Philosophin? Oder war sie eine europäisch-amerikanische Philosophin? Wie darf man sagen, ohne antisemitisch zu sein? Man sagt doch auch: Sartre war ein französischer, Wittgenstein ein österreichischer, Kant ein deutscher Philosoph – und Arendt? ... Ihr Buch macht mich ratlos … Doch das hat nichts, aber schon gar nichts mit Heideggers seinsgeschichtlichem Denken zu tun!

 

Epilog

Lassen wir am Schluss nochmals die Frau zu Wort kommen, die nicht nur Heideggers Philosophie schätzte, sondern mit ihm in jahrzehntelanger Liebe verbunden war – einer Liebe, die alle Höhen und Tiefen überdauerte.

„Denn der Sturm, der durch das Denken Heideggers zieht – wie der, welcher uns nach Jahrtausenden noch aus dem Werk Platons entgegenweht – stammt nicht aus dem Jahrhundert. Er kommt aus dem Uralten, und was er hinterlässt, ist ein Vollendetes, das, wie alles Vollendete, heimfällt zum Uralten.“
(Hannah Arendt: Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt. Neuauflage in: Menschen in finsteren Zeiten. a. a. O. S. 183 f.)

 

 

Mit freundlichen Grüßen

Karl Payer

 

 

 

Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 95: Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014

Martin Heidegger: Gesamtausgabe, IV. Abteilung: Hinweise und Aufzeichnungen, Band 96: Überlegungen XII-XV (Schwarze Hefte 1939-1941). Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014

Martin Heidegger: Gesamtausgabe, III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen, Band 65: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). 3. unveränderte Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2003

Martin Heidegger: Gesamtausgabe, II. Abteilung: Vorlesungen 1919-1944, Band 38: Logik als die Frage nach dem Wesen der Sprache. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1998

Peter Trawny: Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung. 1. Auflage. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 2014